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Da saß er nun, Wilhelm Harun-el-Raschid Hintersatz Bey, mit 59 Jahren erstmals in Kriegsgefangenschaft. Und das mit ungewissen Aussichten für die Zukunft.
Zeit zum Nachdenken über das woher und wohin war nun vielleicht vorhanden. Und Gedanken hatte Wilhelm sich gemacht... Es existiert ein Brief an seine Frau von
Ende März 1945, in welchem er die aktuelle Lage analysiert und aus dem überdeutlich hervorgeht, daß seine bislang geäußerte Haltung gegenüber England mittlerweile
in das Gegenteil verkehrt wurde...
...denn Englands Ausschaltung aus dem europäischen Machtpotential würde gleichbedeutend sein mit Vernichtung Deutschlands, der europäischen Kultur und Gesittung
und damit überhaupt des Wertbegriffes Europa. – England also Schild Europas ! ... Wer Europa liebt und wer den Orient liebt, wer Europa und wer den Orient erhalten
wissen will, und wieviel mehr noch der, welcher beides liebt und mit beiden verkettet ist, der gehört mit aller Kraft und allem Können an Englands Seite. ...
Der Brief schließt mit Da sitze ich nun mit allem, was ich zu bieten habe, und mit meiner in innerster Überzeugung wurzelnder Bereitschaft, nie mit Dingen der
Partei befaßt gewesen und doch sinnlos verkettet mit denen, die von Arbeit und Heim fern gehalten werden, ein Gefangener ohne Schuld! Und das wie lange noch?
Nur einem einmaligen Zufall danke ich der Möglichkeit, diesen Brief mitzugeben. Ich nahm sie wahr, um Dir Deinen Wunsch, einmal klar zu sehen, nach Maßgabe meiner
jetzt natürlich ja auch nur spärlichen Möglichkeit zu erfüllen.
Der letzte Absatz gibt Rätsel auf. Befand sich Wilhelm zu diesem Zeitpunkt (28.3.1945) bereits in Gefangenschaft?
Die Zukunft seiner ehemaligen Untergebenen, muslimische Soldaten aus dem Gebiet der Sowjetunion - Usbeken, Aserbeidschaner, Tataren usw. usf. - sah definitiv
düster aus. Auf der Jalta-Konferenz hatten sich die Großen Drei darüber verständigt, daß alle sowjetischen Staatsangehörigen nach dem Sieg über Hitler
sofort zu repatriieren sind. Die Briten und Amerikaner entwaffneten alle Soldaten der Ostlegionen und des Osttürkischen Waffenverbandes und setzten sie
in speziellen Lagern fest. Zusammen mit zivilen Flüchtlingen aus dem Kaukasus, die sich der Wehrmacht angeschlossen hatten, lieferten die Westalliierten
die Soldaten schließlich an die Rote Armee aus.
Den Ausgelieferten drohte in der Sowjetunion der Tod wegen Hochverrat oder im besten Fall viele Jahre in einem sibirischen Straflager. Manchen gelang
es zu fliehen und unterzutauchen. Unter denen, wo dies mislang, spielten sich teilweise dramatische Szenen ab: sie sprangen von fahrenden Zügen oder von
den Deportationsschiffe, die sie zurück in die Sowjetunion bringen sollten. Es gab Suizide und Selbstverbrennungen. Diejenigen, die lebend
in der Sowjetunion anlangten, wurden liquidiert oder wanderten für lange Zeit in den GULAG.
Wilhelm durchlief nach seiner Gefangennahme mit Sicherheit mehrere Lager. Zunächst war er gewiss in Italien und später in Deutschland interniert. Welche Orte
er dabei konkret absolvierte, ist aktuell nicht bekannt. Sicher ist nur, daß er sich vom 14. Juni 1946 bis zu seiner letztendlichen Entlassung im Internierungslager
Nürnberg-Langwasser befand.
Dieses durfte er am 4. April 1947 verlassen...
Sein Ziel: Husby in Schleswig-Holstein. Dorthin hatte es nämlich Milly und die beiden Jungs verschlagen.
Man kann davon ausgehen, daß diese im Frühjahr 1945 wie Millionen andere Frauen, Kinder und Alte auf die Flucht vor der Roten Armee gingen und sich dabei
natürlich in westliche Richtung, hin zu den Amerikanern und Briten, bewegten. Die Nazi-Propaganda hatte seit Monaten die Angst vor den "russischen Horden" geschürt
und wenn man ehrlich ist und den Berichten Glauben schenkt, war diese Angst vielfach nicht unbegründet.
Aus Fürstenberg, wo die drei bis zuletzt lebten, führte sie der Weg 400 Kilometer in den äußersten Norden Deutschlands bis an die dänische Grenze in die kleine
Gemeinde Husby bei Flensburg. Hierhin kamen im Rahmen der Flucht aus den östlichen Landesteilen bis 1946 ca. 600 Menschen, die die ursprüngliche Einwohnerzahl Husbys
zeitweilig verdoppelten.
Und hier bei seiner Familie traf Wilhelm am 15. April 1947 ein. Die Reise nach Husby führte ihn über München und Stuttgart. In beiden Städten blieb er einige Tage und
wurde vor der Weiterreise jeweils mit Lebensmittelkarten ausgestattet. Ab dem 19. April war er in Husby schließlich auch Lebensmittelkarten-mäßig angemeldet.
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Das Wiedersehen nach über zwei Jahren dürfte ein überaus emotionaler Moment gewesen
sein und fand in der bescheidenen Bleibe statt, in der Milly, Ildar und Torgut 1945
untergekommen waren. Wie damals vielfach der Fall, wurden Flüchtlinge bei der lokalen
Bevölkerung zwangseinquartiert. Eine Wahl hatten die Bittsteller und auch die
Quartiergeber in der Regel nicht.
Und nun lebte man zu viert in den beengten Verhältnissen. Wilhelm nahm seine Aufgabe
als Ernährer der Familie alsbald selbst in die Hände und versuchte als kaufmännischer
Angestellter bei einem lokalen Stahlwarengeschäft die Familienfinanzen aufzubessern.
Das ging nicht lange gut und Phasen von Arbeitslosigkeit trübten die Stimmung.
Februar 1949
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Ostern 1948
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In dieser Zeit entdeckte Wilhelm offenbar eine neue Berufung, die er im Juli 1949 schlußendlich auch zu einem Beruf machte... das Rutengehen!
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Wie man das von ihm mittlerweile gewohnt war, ging er auch diese berufliche Neuorientierung mit vollem Elan und Ernsthaftigkeit an.
Wie er in Kontakt mit diesem Hokus-Pokus kam, entzieht sich meiner Kenntnis. Ebenso ist ungewiß, was er
dabei eigentlich tat. Jedenfalls lernte er bei der Beschäftigung mit diesem Thema Hans Dannert kennen, einen Missionarssohn aus Südafrika, der schon
in den 1930ern in Deutschland als Rutengänger in Erscheinung trat und die Lehre von sogenannten "Reizstreifen" entwickelte
und diese in Vorträgen und Schriften publizierte.
Diese Reizstreifen sollen Areale im Boden sein, über denen sich eine erhöhte Aktivität von "Erdstrahlen" nachweisen lässt. Natürlich
mittels Wünschelruten durch die dafür sensibilisierten Rutengänger. Diese Erdstrahlen wurden (und werden) für allerlei
Ungemach verantwortlich gemacht, die Mensch und Tier befallen können. Deshalb ist es die Aufgabe des Rutengängers, diese
Reizstreifen aufzuspüren und den Betroffenen Lösungsvorschläge anzubieten.
Dazu gehörte aber nicht nur, beispielsweise den Eltern eines bettnässenden Kindes zu empfehlen, die Schlafstatt des Kindes
um 1 Meter zu verschieben sondern auch gleich noch ein "Entstörgerät" zu verkaufen, welches sämtliche gefährlichen Erstrahlen
neutralisieren würde.
Und ein solches "Entstörgerät" war der von Dannert und dem Physiker Henrich entwickelte "Phylax-Apparat", der seit ca. 1932
von der eigenen Apparate-Bau Gmbh in Hagen/Westfalen produziert wurde. Vor diesem völlig wirkungslosen Kasten warnten bereits kurz
nach seinem ersten Auftauchen auf dem Markt offizielle Stellen, da die Käufer hinters Licht geführt wurden und das Versprechen,
daß "bei fachgerechter Aufstellung die Milchproduktion von Kühen um 20% gesteigert würde, bei den in den Gebäuden befindlichen
Bewohnern die Müdigkeit vertrieben und das allgemeine Wohlbefinden gesteigert werden würde" nie im Leben eingelöst werden kann.
In der Schweiz war der Vetrieb derartiger Apparate komplett verboten. Dies hielt Dannert und seine Partner jedoch nicht davon ab,
diese Geräte weiterhin an unbedarfte Zeitgenossen für 60 bis 120 DM (je nach "Reichweite") zu verscherbeln.
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Hans Dannert
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Wilhelm mit der Dannertschen "Aggregatrute".
Sein jüngster Sohn darf assistieren.
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In den 1950er Jahren setzte diesbezüglich ein wahrer Boom ein
und Dannert verkaufte jährlich ca. 7000 dieser nutzlosen Kästen.
Und Wilhelm Harun-el-Raschid war (mal wieder!) mit dabei.
Wahrscheinlich bot er aktiv den Bauern der Flensburger Umgebung
seine Dienste zur Erkundung besagter Erdstrahlen an und jubelte
dem einen oder anderen gleich noch einen Phylax-Apparat unter...
So ganz erfolglos war die Wünschelruten-Fuchtelei wohl nicht und
finanziell scheint sich der ganze Aufwand doch ausgezahlt haben...
Im Juli 1950 konnte die Familie nämlich endlich in eine eigene Bleibe
umziehen, die man liebevoll "das RoPa" nannte.
Ich könnte mir vorstellen, daß dies die Abkürzung für "Rollendes Paradies"
war. Denn wie im Paradies muß es den Vieren nach 5 bzw. 3 Jahren, die
man bei Fremden untergekommen war, vorgekommen sein: Endlich eine Wohnung
für sich allein, mit einem kleinen Gärtchen ringsrum...
Aber warum "rollend"?
Die Antwort liefert das folgende Foto. Bei dem neuen Heim der Familie
handelte sich schlicht und ergreifend um einen Wohnwagen!
Das RoPa (Dezember 1950)
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Dieser Wohnwagen, der im Inneren einen Wohnraum, Schlafkabinen und eine kleine Küche beherbergte, stand auf einer
kleinen Parzelle in direkter Nachbarschaft der Eisenbahnstrecke Eckernförde - Flensburg neben einem sehr großen Gebäude,
welches heute nach einigen Umbauten als "Speicherhus Husby" bekannt ist.
Über die folgenden Jahre verschönerte Familie Harun-el-Raschid das kleine
Areal rund um den Wohnwagen, errichtete Ställchen für allerlei Kleinvieh und
bewirtschaftete ein winziges Gärtchen.
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Aus heutiger Sicht mutet diese Form des Wohnens vielleicht kurios an. Vor dem Hintergrund der Fluchtbewegungen von Millionen nach und innerhalb
Deutschlands und dem damit verbundenen Verlust von "Hab und Gut" relativiert sich die Sicht jedoch. Es war damals absolut nicht ungewöhnlich, daß
"Zugezogene", wenn sie denn die Möglichkeit hatten, Flüchtlingslager zu verlassen oder die Einquartierung bei Fremden hinter sich zu lassen, auf
derartige Alternativen verfielen... Wohnwagen, ausrangierte Eisenbahnwaggons, Gartenlauben... alles keine Seltenheit damals. Geld und Grundstück zur Errichtung
eines eigenen Hauses war zumeist nicht vorhanden, der Bau von (Sozial)wohnungen, um die vielen entwurzelten Familien unterzubringen, hatte noch nicht
begonnen.
Berücksichtigt man die doch zuweilen exzentrische Natur Wilhelms, könnte man aber auch zu der Überzeugung gelangen, daß er genau das für
eine tolle Idee hielt: er und seine kleine Familie in einem Wohnwagen, was ihm (zumindest theoretisch) die Möglichkeit gab, das Gefährt auch an einem
anderen Platz Deutschlands zu stationieren. Wir wissen nicht, welche Beweggründe bei der ganzen Aktion eine Rolle spielten und werden es vermutlich
auch nie herausfinden.
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Johanna Vogel November 1947
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Derartige Wohnungsprobleme bestanden in Senftenberg zu dieser Zeit nicht. Leider liegen
keine Informationen darüber vor, wie Hanni und Georg in Senftenberg die letzten Kriegsjahre,
den Zusammenbruch und die unmittelbare Nachkriegszeit erlebten.
Ihr Haus in der Elsterstraße blieb beim Beschuß Senftenbergs durch die Rote Armee im April
1945 und die nachfolgenden Brandschatzungen, die vermutlich durch Zwangsarbeiter nach deren
Befreiung im Gebiet der Stadt erfolgten, weitestgehend (oder vollständig) unberührt.
Wir wissen nicht ob Hanni, wie so viele, im Frühjahr 1945 ebenfalls auf die Flucht ging und
ob Georg im letzten Aufgebot Hitlers, dem "Volkssturm", Senftenberg bis zuletzt verteidigte.
In Senftenberg halten sich bis auf den heutigen Tag hartnäckig Gerüchte, daß Georg Vogel nach Kriegsende
von den Russen inhaftiert wurde. Grund: irgendwelche Nazi-Verstrickungen im Gefolge seiner
anwaltschaftlichen Tätigkeit. Bis mir hierzu gesicherte Nachweise vorliegen, betrachte
ich dies zwar einerseits als möglich, andererseits kann eine eventuelle Inhaftierung auch
andere Gründe gehabt haben. Damals war man im Finden von Gründen durchaus flexibel.
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Georg Vogel 1948
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Mindestens 1948 muß Georg Vogel noch in seinem Beruf gearbeitet haben.
Anders sind die nachfolgenden Faksimiles nicht zu erklären. Seines Doktor-Titels
scheint er jedoch verlustig gegangen zu sein...
Senftenberger Anzeiger (23. April 1948)
Das Foto rechts ist auf den 11. September 1949 datiert. Es
stellt derzeit die zeitlich letzte Aufnahme des Ehepaars dar.
Georg Vogel erscheint darauf deutlich ausgezehrt...
1953 verlässt er ohne seine Frau Johanna Senftenberg.
In den amtlichen Unterlagen findet man "nach dem Westen - 11.4.53".
Der genaue Zielort wurde geschwärzt...
Und damit endet die Spur. Es liegen aktuell weder Informationen
darüber vor, warum er gegangen ist, wieso er dies ohne
Johanna tat, wohin er genau ging und was mit ihm in
Folge passierte.
Es gibt keine Hinweise darauf, daß Johanna und Georg sich später
noch einmal irgendwo trafen. Johanna selbst lebte bis zu ihrem Tode
in dem vormals gemeinsamen Haus in der Senftenberger Elsterstraße.
Da sie nie einer Arbeit nachging, ist davon auszugehen, daß sie von
ihrem Ehemann weiterhin finanziell unterstützt wurde.
Auf Johannas Sterbeurkunde wird knapp 25 Jahre später die Angabe
"verwitwet" stehen...
Auch die Frage, ob sich Johanna und ihr Bruder Wilhelm nach dem
Krieg noch einmal trafen, muß man wohl mit "Nein" beantworten.
Die Geschwister pflegten jedoch einen regen Briefwechsel. Vor Wilhelms
Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft wurde der Kontakt zu Milly
und den beiden Neffen gehalten. Nach Wilhelms Heimkehr auch wieder
direkt. Letzterer unterzeichnete die an seine Schwester gerichteten
Postkarten und Briefe in der Regel mit "Tante Christine". Wahrscheinlich
um seine Existenz vor den mitlesenden Machthabern in der SBZ/DDR zu verschleiern.
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aus: "Wegweiser durch Verwaltung, Wirtschaft und Verkehr - Kreis Calau"
(genehmigt durch Zensur der SMA Land Brandenburg vom 14.2.1949)
Johanna und Georg Senftenberg - 11. September 1949
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Und ein echter Schreiberling war er ja, der Wilhelm... Wie schon 20 Jahre zuvor, als er seinem Idol Liman von Sanders ein kleines
Heftchen widmete, tat er ähnliches 1952 mit der Veröffentlichung "Achtung Erdstrahlen" für seinen neuen "Meister" Hans Dannert...
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Achtung, Erdstrahlen sind Gefahr
für
Mensch, Tier und Pflanzenhaltung!
Die Wünschelrute warnt.
R.Eisenschmidt-Verlag
Wiesbaden - Berlin
1952
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In dem 32-seitigen Heftchen wiederholt der Autor zunächst die "wissenschaftlichen"
Grundlagen der von Dannert entdeckten "Erdstrahlenstreifen" um daraufhin die praktische
Bestätigung dieser anhand von Episoden aus Dannerts "Rutungen" zu belegen. Kurz darauf
berichtet Wilhelm dann aus eigenem Erleben. Die Bandbreite seiner Einsätze reichte über
Erkrankungen von Mensch (Schlaflosigkeit, Allergien, Rheuma, Asthma, Magen-Darm, Koliken,
nächtliche Angstanfälle bei seinem eigenen Sohn und so weiter und so fort) und Tier
(Wuchs, Milchertrag und -qualität etc.) die sich natürlich sämtlichst auf die von ihm
aufgespürten "Erdreize" zurückführen und mit Hilfe eines Phylax-Apparates beseitigen
liessen.
Es folgen weitere wilde Theorien über den Einfluss der Erdstrahlen auf die Bildung von Krebs
oder Kropf sowie auf die Fortpflanzung bei Mensch und Tier. Und auch das Bettnässen ist eine
hochprozentige Folge von "Erdreiz". Alles natürlich praktisch
nachgewiesen!
Aber auch die Pflanzenwelt kommt nicht zu kurz. Hier wirken sich die gefährlichen
Reizstreifen selbstverständlich negativ auf den Wuchs und den Ertrag von Kulturen aus.
Über einen kurzen Ausflug in die gestörte Akustik von großen Räumen, deren Ursache zuweilen in
den unter dem Bauwerk befindlichen Reizstreifen und weniger in einer baulichen Unzulänglichkeit
zu suchen sind, kommen wir schlußendlich zu einem ganz besonderen Phänomen...
Dem berühmt-berüchtigten Kilometerstein 23,9...
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In den 1930er Jahren passierten an jenem Kilometerstein 23,9 auf der Straße zwischen Bremen
und Bremerhaven rund 50 Autounfälle mit Verletzten und sogar Toten. Hier kamen auf
schnurgerader Strecke Autos aus unerklärlichen Gründen von der Fahrbahn ab und fuhren in die
Seitengräben und gegen Bäume.
Aufgrund der schieren Anzahl innerhalb kürzester Zeit gelangte die Unfallstelle tatsächlich
zu einiger Berühmtheit. Die Zeitungen titelten damals "Der Tod lauert am Kilometerstein 23,9"
und das Thema wurde 1934 sogar in einem Mystery-Roman verarbeitet.
Da es keine logische Erklärung für die zahlreichen Unfälle gab, fühlten sich diverse Leute
berufen, die Sache in Augenschein zu nehmen und ihre Expertise abzugeben. Unter anderem auch
ein Rutengänger namens Karl Wehrs, der bereits 1932 eine Erklärung für den ganzen Spuk hatte:
überstarke Erdstrahlung, die dergestalt auf den Autofahrer wirkte, als daß das Lenkrad wie
eine Wünschelrute reagierte und er daraufhin das Steuer verriß und im Graben landete.
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Wehrs vergrub angeblich sogar eine primitive Frühform des "Phylax-Apparates" an der Stelle, woraufhin die Unfälle aufhörten. Nach dessen Entfernen
setzte das Treiben erneut ein. Auch Herr Dannert prüfte im Jahre 1939 die ominöse Stelle und stellte dort ein Reizstreifenvorkommen von ca.
20 m Breite in einer allgemeinen Steilrichtung Südost-Nordwest fest, das die Straße Bremen - Bremerhaven bei "km 23,9" kreuzt. Anscheinend handelt es
sich um einen starken, mineralhaltigen Wasserlauf. Und weiter: Die Stelle "km 23,9" hat in den verflossenen Jahren vielen Kraftfahrern Elend
und Tod gebracht, ohne daß Abhilfe geschaffen wurde. Die Phylax-Apparate-Bau G.m.b.H., Hagen (Westfalen), deren Mitarbeiter Herr Dannert ist, hat
sich nach dem neuerlichen schweren Unglück bereit erklärt, kostenlos ein geeignetes Entstörgerät, das die Reizwellen absorbiert und damit unwirksam
macht, aufzustellen, wenn seitens der Behörde dafür ein kleiner Schutzraum aus Ziegelmauerwerk oder Beton zur Verfügung gestellt wird.
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Wer sich nun fragt, wieso keine Forderung nach einem Stromanschluß aufgemacht wurde...
Phylax wusste Rat und entwickelte ein Gerät, welches völlig leitungsunabhängig die Erdstrahlen aufnimmt
und die dabei gewonnene Energie in umgekehrter Richtung gegen dieselben einsetzt, um sie zu neutralisieren.
Sensationell!
Ungeachtet der Tatsache, daß die Unfallserie bereits seit 15 Jahren abgerissen war
und die wenigen Crashs seitdem auf unangepasste Fahrweise zurückzuführen waren, traf sich
in der Nacht vom 15. auf den 16. Oktober 1952 eine illustre Herrenrunde am Kilometerstein
23,9. Mit dabei: Hans Dannert und Wilhelm Harun-el-Raschid Bey.
Rutung km-Stein 23,9 an Straße Bremen - Bremerhaven 15./16. Oktober 1952
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Welchen Zweck die Zusammenkunft im Schutze der Dunkelheit und mit amtlicher Überwachung durch zwei Schutzmänner hatte, ist nicht überliefert. Möglicherweise wollte man die
Notwendigkeit oben erwähnten Angebotes nochmals zementieren. Ob man noch "Erdstrahlen" fand?
Wie lange Wilhelm fortfolgend bei der ganzen Quacksalberei noch mitmachte ist unklar. In seinem 1953 ausgestellten Reisepass findet man als Berufsbezeichnung neben dem
obligatorischen "Oberst a.D." zusätzlich die Angabe "wissensch. Rutengänger". Vielleicht endete der Ausflug in die Welt der Erdstrahlen mit dem Tod Hans Dannerts 1954,
vielleicht aber auch nicht.
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In jedem Fall verbesserte sich die finanzielle Lage der Familie zusehends
und das wird sicher nicht an Tantiemen für sein "Achtung Erdstrahlen" - Heftchen
gelegen haben.
1952 besaß man schon wieder einen eigenen fahrbaren Untersatz, etwas das
auch im Westen zu jener Zeit nicht gang und gäbe war.
Der DKW F8 diente Wilhelm nicht nur für seine Hausbesuche bei den ganzen
"Verstrahlten" in der Umgebung, die er mit Wünschelrute und Phylax-Apparat
beglückte. Darüber hinaus nutze die Familie ihre neue mobile Unabhängigkeit
für zahlreiche Ausflüge und Kurzurlaube quer durch West-Deutschland.
Außerdem passierte man fast wöchentlich die nahe Grenze zu Dänemark
um sich dort mit Waren des täglichen Bedarfs einzudecken.
Autobahn nach Stuttgart (Juli 1953)
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1952
Das schöne an dem Fahrzeugmodell war natürlich der geschwungene Kotflügel,
der wie geschaffen war ... für eine Standarte!
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Juli 1953
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Neben allen möglichen Beschäftigungen blieb Wilhelm noch genügend Zeit, seinem
literarischen Kanon ein weiteres und letztes Werk hinzuzufügen: 1954 erschien im Bielefelder
Deutschen Heimat-Verlag sein Buch "Aus Orient und Occident - Ein Mosaik aus buntem Erleben"
Reklame-Flyer
Der Buchtitel wäre nach allem, was wir mittlerweile über das Leben des Autors wissen, ein
kongenialer Titel für eine Autobiografie gewesen. Doch ein weiteres Mal wird derjenige
Leser enttäuscht, der eine solche Erwartung hegt.
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Man hätte sich gewünscht, daß Wilhelm nicht
nur seinen alten Fez für das Foto rechts aus der
Mottenkiste geholt hätte, sondern auch noch ein
paar Geschichten aus seinem bewegten Leben zum
Besten gegeben hätte. Der Klappentext des Buches
suggeriert zwar solches, der Inhalt bleibt jedoch
meines Erachtens weit hinter seinen Möglichkeiten...
Packende Wiedergabe vielseitigen Erlebens einer
bemerkenswerten Persönlichkeit fesseln den Leser dieser
Geschichten aus Morgen- und Abendland.
Der Autor, ein deutschblütiger Mohamedaner und an hohen
Kommandostellen deutscher und fremder Armeen bewährter
Offizier dreier Kriege, nutzt in ihnen seine
besondere Begabung, aus eigener Empfindsamkeit
seinen Mitmenschen das Besondere, das Spezifische, das
Beispielhafte und deswegen Bemerkenswerte zu verdeutlichen.
In jeder seiner Erzählungen beweist er seine Fähigkeit,
sowohl sachlich als auch psychologisch das Geschehen zu
erfühlen und seine persönliche Auffassung von den Dingen
akzentuiert und doch unaufdringlich darzulegen. Der
vielseitig bewährte Schriftsteller vereint hier Erlebnis
und Erfahrung aus Jahrzehnten eines buntbewegten Lebens
zu einem Mosaik, in dem sich dennoch die gelassene
Erkenntnis menschlicher Seele wie ein roter Faden unverkennbar
durch alle Geschichten zieht, seien sie in den Motiven
auch noch so verschieden. - Dieses Buch ist ein wirkliches
Volksbuch kritischen Ernstes und überquellender Heiterkeit,
ein vortreffliches Geschenk für jung und alt. - Bisher
wurde Harun-el-Raschid Bey bekannt durch seine Werke »Marschall Liman von Sanders
Pascha und sein Werk«, eine Würdigung der deutschen
militärischen Organisationsarbeit und Führung in der
Kaiserlich Osmanischen Armee für den Verlauf des ersten
Weltkrieges. Ferner »Schwarz oder Weiß?«, eine in romanesker
Form gehaltene Schilderung aller mit dem italienisch-abessinischen
Krieg verbundenen Umstände vor den Kulissen des Geheimen
Nachrichtendienstes. Es folgte ein kleines, tiefgründiges
Werk über Erdstrahlenforschung.
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Sommer 1953
Sommer 1953 (coloriert 2020)
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Soweit also das Werbedeutsch des Klappentextes, der mehr verspricht als die 19 mehr oder minder
langen Geschichten im Innern des Buches halten können.
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Nach all den kleinen und vielfach langweiligen Geschichten versteigt sich der Autor kurz vor Ende des Buches unter dem Titel "Armenier-Greuel"
noch in eine Relativierung der menschenverachtenden Behandlung der Armenier durch das Osmanische Reich im Jahre 1915. Wie er selbst schreibt, wollte
er damit Zeitungsartikeln oder kirchengemeinschaftlichen Traktätchen, die offenbar Anfang der 1950er vermehrt zu diesem Thema erschienen,
einen mit objektiv eingestelltem Auge kritischen Blick widmen. In seinem Aufsatz wiegt er Opfer auf türkischer Seite (die es zweifellos gab)
gegen die auf der armenischen Seite (von denen wir selbst heute keine genaue Zahl kennen) auf, um unter anderem zu folgendem Fazit zu kommen:
Billigen wir beiden Parteien sehr großzügig das entfesselte heiße Temperament und die viel minder
zarte psychische Empfindsamkeit zu, so müssen wir hier mit den gleichen Minusresultaten auf beiden Seiten
den Schlußstrich ziehen.
Prinzipiell sieht er die damaligen Geschehnisse aus einer stark türkischen Haltung, die leider auch heute noch die ultimative und unumstössliche Sicht
der Dinge seitens der Türkei darstellt.
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