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erschienen im Senftenberger Anzeiger vom 24.Dezember 1935
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Die ethiopischen „Generale“.

I. An der Spitze des ethiopischen „Heerwesens“ steht der Kriegsminister, z. Z. der „Ras“ (d.i. Fürst) Mulu Gheta, der übrigens diesen Posten – er war zwischendurch Gouverneur der Provinz Wollega – zum zweiten Male bekleidet. Mulu Gheta, heute ungefähr (genau weiß man hier das Alter selten oder wohl gar nicht) 65 Jahre alt, ist eine große, kräftige Kriegererscheinung, das letztere besonders dann, wenn er – und er tut es gern – noch die alte Kriegstracht aus der Zeit des Kaisers Menelik trägt, die schwere, goldene Ras-Krone auf dem Haupt, das Löwenfell über der Schulter, das lange Krummschwert umgegürtet, am linken Arm den goldbeschlagenen Büffelschild, in der Rechten den Speer. Natürlich ging Mulu Gheta jetzt nicht in dieser Hof- und Paradeuniform in den Krieg, sondern in einfacher Khakiuniform. Mulu Gheta ist „Ras“ nicht von Geblüt, sondern wurde „gefürstet“ vom jetzigen Negus infolge seiner Verdienste um den Staat. Er ist einer der alten „Menelik-Leute“. Man nennt einen bestimmten Kreis so und drückt damit aus, daß jemand, der dazu gehört, vorliegend also Mulu Gheta, einer von denen ist, die die Menelik-Tradition wahren und das konservative – tatsächlich das beste! – Element Ethiopiens darstellen. Es sind fast durchweg gerade, aufrechte, untadelige Männer, wie man sie in der späteren Generation sehr, sehr selten leider nur noch findet. Mulu Gheta zeichnete sich erstmalig in der Schlacht bei Adua (1896) aus. Kaiser Menelik schätzte ihn ungemein. Er ernannte ihn zum Finanzminister und ehrte ihn nach Bewährung in diesem Amte durch den Titel „Bedjerond“, der im Verfolg ganz besonderer Bewährung hohen Verwaltungsbeamten zuteil wird. Als 1917 die Tochter Meneliks, Sauditu, zur Kaiserin gekrönt und der damalige Ras Tafari von ihr zum Regenten ernannt wurde, stellte Mulu Gheta sich vorbehaltlos auf die Seite des Regenten und damit gegen den zuvor bereits gestürzten Lidj Yassou, den Menelik zu seinem Nachfolger bestimmt hatte. Als 1928 der Fitorari Habte Gergis starb, wurde Mulu Gheta sein Nachfolger. Er bewährte sich als Höchstkommandierender der Kaiserlichen Truppen im Kampfe gegen den aufständischen Ras Gugsa, den er in der Schlacht bei Kuana-Antschim (in der Provinz Begemeder) vernichtend schlug. In dankbarer Anerkennung dessen ernannte ihn der Kaiser – inzwischen war aus dem Ras Tafari der „Neguse Negest“ (König der Könige) Haile Selassie I. geworden – zum Ras und Gouverneur der reichen Provinz Wollega. Bei Beginn der italienischen Krise holte der Kaiser ihn jedoch zurück auf den Posten des Kriegsminsters. Mulu Gheta ist bei den ethiopischen Soldaten sehr beliebt, da er sich bemüht, den ihm unterstellten Truppen nicht nur der Führer, sondern auch ein fürsorgender Vater zu sein. Freilich, mit diesem seinem Bestreben hat er es unter den hier obwaltenden Umständen wahrlich nicht leicht, zumal deshalb nicht, weil die unteren Führer selbst in diesen Zeiten der brennendsten Gefahr im Gegensatz zu ihm in die eigenen Taschen stecken, was sie nur „ergattern“ können. Es ist eine nicht aus der Welt zu leugnende Tatsache, daß die Haupteinkünfte des Landes bei den Provinz-Gouverneuren hängen bleiben. Und wenn der Kaiser einem seiner Großen besonders wohl will, so gibt er diesem eben eine große und vor allem reiche Provinz. Im allgemeinen saugt dann der Herr Gouverneur aus seinen Bauern und Grundbesitzern überhaupt heraus, was eben zu holen ist. Dem Kriegsminister als solchen unterstehen sogar mehrere Provinzen. Mulu Gheta aber ist – und das spricht für ihn Bände! – kein reicher Mann. Natürlich ist das im Volke bekannt und bringt ihm des Volkes und damit der Soldaten Verehrung ein. Daß er ein tapferer Kämpfer ist, hat er bewiesen. In seinem Kampfe gegen den Ras Gugsa hat er fraglos auch strategisches Geschick gezeigt. Seine Spezialität ist das Umfassungsmanöver. Gerade deshalb hat der Kaiser ihn jetzt an die Nordfront geschickt, an der man mit dieser Strategie – notfalls unter rücksichtslosem Masseneinsatz – die entscheidende Wendung herbeiführen will. Mit seinem Eintreffen dort sit die Uebernahme des Oberbefehls durch ihn automatisch verbunden. Und nun gilt es, abzuwarten, wieweit Mulu Ghetas Bewährung als „Stratege“ in den Kämpfen um die Gestaltung des Landes und gegen aufrührerische Fürsten überhaupt in Bezug zu bringen ist zu den Anforderungen moderner Strategie.

II. Bis zum Eintreffen des Kriegsministers und seit Beginn der Feindseligkeiten führt den Oberbefehl an der Nordfront der etwa 55jährige Ras Kassa, Gouverneur der Provinzen Salale und Godjam. Kassa ist ein Sohn des Ras Darge, eines Enkels des Kaisers Sahle Seassie. Ras Kassa ist nicht „Soldat“ und hat in der Tat auch keinerlei soldatische Qualitäten. Im Grunde „führt“ an seiner Stelle sein Sohn Dedjasmatsch (erst mit dem Tode seines Vaters wird er Ras) Aberra, ganz entschieden einer der „fähigen“ ethiopischen Generale. Auch hat er sich seinerzeit, und zwar an der Spitze einer Heerschar von etwa Regimentsstärke, in der oben besagten Schlacht von Kuana-Antschim ausgezeichnet. Später hat er in dauerndem Kampf gegen das Räuberunwesen speziell Erfahrungen für den „Guerilla“, also den Kleinkrieg von Fels zu Fels, Busch zu Busch, gesammelt. Seine kameradschaftliche, schlichte Art im Umgang, im Verein mit seinem persönlichen Mut hat ihm die Liebe seiner Soldaten gewonnen.

III. Den rechten Flügel der Nord-Front befehligt Ras Zium, ein Sohn des Ras Managascha und Enkel des Kaisers Johannes. Ras Zium, im Anfang der fünfziger Jahre, lebte längere Zeit in Addis Abeba, nachdem er bei der Kaiserin Sauditu in Ungnade gefallen und seines Postens als Gouverneur der Provinz Tigre enthoben war, weil er dem gestürzten Lidj Yassou Gastfreundschaft gewährt und sich geweigert hatte, ihn auszuliefern. Ras Zium ist „populär“ durch einen seltsamen Sprachfehler. Er kann, wie die Chinesen, den Buchstaben „R“ nicht aussprechen und sagt dafür „L“. Ras Zium, ein persönlich tapferer Mann, ist kein Soldat. Wenn er trotzdem Führer einer maßgeblichen Heeresmacht ist, so ergibt sich das nach dem hier herrschenden Feudalsystem automatisch aus seiner Stellung als Gouverneur der Grenzprovinz Tigre, um die ja da, wo er führt, der Kampf geht. Als technischer Berater hat er zu seiner Seite den ehemaligen Kaiserlichen russischen Oberst Kornowaloff, im Weltkriege zunächst Adjutant des Großfürsten Alexander Michailowitsch gewesen, dann – seit 1917 – Kommandeur der russischen Fliegertruppen. An sich ein fähiger Kopf, ist Kornaowaloff andererseits dem Grundübel seiner Landsleute, dem Trunk, verfallen.

IV. Befehlshaber des linken Flügels der Nord-Front ist der etwa 48jährige Dedjasmatsch Ayellou Birrou, Sohn einer Schwester der Kaiserin Taitou, der Gattin Meneliks. Ayellou ist ein verschlagener Charakter, wenig beliebt. Seine Verschlagenheit ist sein Familienerbteil. Die Kaiserin Taitou war wohl die ränkesüchtigtse Intrigantin, die je Ethiopien auf seinem Thron gesehen hat. Für seine Aufgabe der Durchführung eines Gebirgskrieges im großen wie im kleinen Maßstabe ist Ayellou entschieden der geeignete Mann. Er ist es, von dem die ethiopische Regierung örtlich die Ausführung des entscheidenden Schlages gegen die Italiener an der Nord-Front erwartet.

V. Der Führer der hinter dem linken Flügel der Ayellou-Kräfte zurückgehaltenen Armee-Reserve ist der Gouverneur der Provinz Gonder, Ras Imrou, der etwa 50jährige Vetter des Kaisers Haile Selassie. Sein Vater war ein Bruder des Ras Makonnen, des Vaters des jetzigen Kaisers. Ras Imrou war früher Gouverneur der Provinz Harrar. Sein Ruf ist der des fähigsten und tatkräftigsten Provinzgouverneurs. Fraglos ist er einer der intelligentesten Ethiopier. Bewiesen hat er sein Können bisher allerdings nur auf verwaltungstechnischem Gebiete, so daß über seine militärische Eignung ein Urtail zur Zeit sich noch nicht geben läßt. Die Ethiopier selbst stehen ihm in dieser Hinsicht skeptisch gegenüber; und daraus vor allem folgert, daß er, obwohl ein bzw. „der“ direkte Vetter des Kaisers, eine führende Stellung an der Front selbst bisher nicht erhalten hat.

VI. Wenden wir uns jetzt zur Süd-(Somali-)Front, so finden wir dort zwei Heeresgruppen, und zwar die Gruppe Harrar-Ogaden (versammelt hauptsächlich um Djigdjigga) unter ihrem Oberbefehlshaber Dedjasmatsch Nassibo Samanuel, dessen Vater der Oberhofmarschall der Kaiserin Taitou war, und die Gruppe Arussi-Sidamo-Bali-Borana unter den Ras Desta Demto, einem Neffen des vor wenigen Jahren verstorbenen Ras Nado, Gouverneurs der Provinz Wollega. Ras Desta hat die älteste Tochter des Kaisers zur Frau. 1) Der Führer der Gruppe Harrar-Ogaden, Dedjasmatsch Nassibo Samanuel, war früher Gouverneur der Stadt Addis Abeba, dann Generaldirektor des Kriegsministeriums und damit so etwa „Generalstabschef“ der ethiopischen Armee. Anschließend wurde er zum Gouverneur der Provinz Harrar. Seine Bewährung in der Organisation der Polizei in Addis Abeba hat ihm den Ruf eines tüchtigen Organisators eingetragen. Sein Verdienst ist der Aufzug eines „sozusagen“ modernen Regimentes in Goba, einer Stadt der Provinz Bali. Nassibo war im Auftrage der ethiopischen Regierung wiederholt und auch längere Zeit in Europa und hat dort aus persönlichem Interesse sich auch mit Fragen der modernen Bewaffnung beschäftigt. Er ist ein gebildeter, modern denkender Mann von europäischen Umgangs- und Lebensformen. Er ist energisch, aktiv und militärisch über das normale Maß vorgebildet, wenn er diese seine Vorbildung sich wesentlich auch nur als Autodidakt erworben hat. 2) Ihm zur Seite steht der ehemalige Kaiserlich-Osmanische General und Armeeführer aus Weltkriegszeit, Wehib Pascha Janina. Zwischen beiden besteht ein ausgezeichnetes Verhältnis, so daß an dieser Stelle eine einheitliche und militärisch gute Leistung gewährleistet scheint. 3) Ras Desta Demto hat militärisch bisher noch nichts geleistet. Zu seiner jetzigen Höhe hat ihn sein Verdienst um den Kaiser geführt; und dies besteht darin, daß es ihm seinerzeit gelang, Lidj Yassou gefangen zu nehmen (und dem Kaiser auszuliefern!), der sich jahrelang jedem Zugriff zu entziehen verstanden hatte. Ras Desta Demto, heute kaum 40 Jahre alt, gilt als klug und energisch, auch als organisatorisch befähigt. Zu seiner militärischen Unterstützung hat er in seinem Stabe einige ethiopische Offiziere, die in St. Cyr die französische Militärschule absolviert haben.

VII. Die Ungewißheit über den voraussichtlichen strategischen Einsatz der bei Assab versammelten italienischen Kräfte hat vor kurzem zu raschestem Zusammenziehen starker ethiopischer Kräfte (bisher etwa 100 000 Mann) in der Provinz Tschertscher geführt, die ihre Spitze zunächst gegen die Provinz Aussa richten sollen. Den Oberbefehl über diese neue Armee – bzw. zunächst die Organisation derselben – hat der Kaiser dem Ras Getadjo übertragen. Ras Getadjo, ein Sohn des Ras Abate, eines der führenden Männer aus der seinerzeitigen Adua-Schlacht, ist etwa 48 Jahre alt. Er war lange Zeit Ethiopiens Geschäftsträger in Paris und Vertreter beim Völkerbund, dann Innenminister und Provinz-Gouverneur. Getadjo liebt europäische Zerstreuungen, ist – übrigens ein guter Tänzer – ein Freund schöner Weiblichkeit und auch einem guten Tropfen nicht abhold, also gewissermaßen der „Lebemann en miniature“ unter den ethiopischen Heerführern. Die Momente, die dazu geführt haben, ihn mit so verantwortungsvoller Aufgabe zu betrauen, sind die Achtung vor seinen europäischen Erfahrungen, seine unleugbare Klugheit und das persönliche Vertrauen des Kaisers zu ihm. Ob damit aber für seine jetzige Aufgabe de facto die erforderlichen Qualitäten – und vor allem die in militärischer Hinsicht! – verbunden sind, steht zunächst dahin.

VIII. Und zum Schluß der einstweilen noch „große Unbekannte“ auf dem Spielbrett der ethiopischen Kriegführung: Es ist Bedjerond Takle Hawariat, der bisherige ethiopische Geschäftsträger in Paris und Vertreter vor dem Völkerbund, den der Kaiser auf Drängen seiner Ratgeber aus seiner Stellung abberufen und zu sich herangeholt hat. Allem Anschein nach ist diesem Manne die Stellung eines Chefs des – einstweilen freilich erst mal „gedachten!“ – „Generalstabes der Armee“ vorbehalten. Vor Antritt seines Pariser Amtes war Takle Hawariat Finanzminister. Sowohl damals wie in seiner Tätigkeit in Paris und besonders als Vertreter Ethiopiens vor dem Völkerbund hat er sich ganz zweifellos ausgezeichnet bewährt. Jedoch nicht nur diese Bewährung hat seine Berufung für gedachte militärische Aufgaben veranlaßt, sondern vielmehr seine frühere aktive militärische Schule. Die religiöse Gemeinschaft mit dem Kaiserlichen Rußland hatte in den Zeiten vor dem Weltkriege zur Entsendung junger Ethiopier nach Rußland geführt. Einer von diesen war auch Takle Hawariat. Er trat in die russische Armee ein, wurde Offizier und erlangte das Diplom seiner Befähigung zum Generalstab. Takle Hawariat ist fraglos ein ebenso hochintelligenter wie vielseitig gebildeter Mann und tatsächlich wohl der einzige Ethiopier, der nach Vorbildung als modern geschulter Soldat und als geeignet für die Stellung eines Generalstabschefs zu bezeichnen ist.